Sarrazin in Kreuzberg [mit Nachtrag]

Das ist schon ganz schön schlecht, was das ZDF [Nachtrag: da vorhatte: schicken wir doch mal Herrn Sarrazin druch Kreuzberg, mit ner Kamera im Gepäck, einem Mikro und einer irgendwie vorhandenen ‚Reporterin‘ [Nachtrag: es handelt sich um die Autorin Güner Balci, die u.a. ArabBoy und ArabQueen geschrieben hat].

Ergebnis: auf allen Online-Seiten der Berliner Presse finden sich Artikel, Videos und Kommentare, die interessanterweise vor allem Kommentare von Sarrazin übernehmen bzw. diesen nochmal seine Tiraden sprechen lassen und nochmal draufkloppen [‚Hassattacke, Jagd und Mobbing‘]. [Ein offener Brief an Güner Balci findet sich hier][und wer wissen will, wie ein Medium wie die FAZ über dieses Thema schreibt, sollte diesen Artikel hier lesen – nur gut, dass Leitmedien irgendwann irrelevant werden, weil die Leser wegen Überalterung wegsterben] [hier noch ein Artikel von Balci zum Kreuzberg-Besuch]

Was mich geradezu erbost hat, ist, dass Sarrazin bei seinem Besuch in Neukölln und Kreuzberg häufig wo auch immer er durchaus lautstark angesprochen wurde, ständig von ‚antidemokratischem‘ Verhalten, von mangelndem Benehmen der anderen spricht, nie nie niemals aber sein eigenes Verhalten hinterfragt.

Beispiel: Da sagt er doch an einer Stelle zu einem laut werdenden Mann am Maybachufer: ‚mein lieber Mann’…Online ist das für ihn später nur noch der ‚Schreihals‘.

Und online: der ‚liebe Mann‘ habe sich ihm in den Weg gestellt, im Video sieht man den durchaus erregt redenden Mann aus Sarrazin einreden, der sich wegwindet, der ihm den Rücken zudreht usw.

Oben am Kottbusser Tor wird er wieder lautstark von einem jungen Mann betextet, was fragt Sarrazin: „Sind Sie Deutscher?“ – was bitte spielt das für eine Rolle in einer Debatte? Will er zunächst die Staatsbürgerschaft geklärt wissen bevor er antwortet?

Ja, denn:

Antwort des jungen Mannes: „Ich bin nicht deutscher Staatsbürger.“

Sarrazin: „Dann benimm dich mal vernünftig, du bist in einem anderen Land.“

Hui, das hat Schmackes, weil Sarrazin ganz schlimme Zuordnungen macht – der passt, der nicht, mit dem rede ich, mit dem nicht, der ist Deutscher, der nicht [auch wenn er deutsch spricht] usw. Ich frage mich, wie kommt der EX-Senator überhaupt dazu so zu urteilen – doch wohl nur aus einem Überlegenheitsgedanken, den er aus seinem Deutschtum ableitet [der Name Sarrazin übrigens kommt vermutlich aus dem französisch-hugenottischen].

Was mich aber maßlos ärgert, ist das Ansinnen der ZDF-Aspekte-Redaktion geifernd mitzumischen. Da gibt es eine Szene vor einem Haus der Aleviten: zu sehen ist ein Sprecher, der den Grund einer Interview-Absage vorträgt, die Kamera filmt keine 10 Zentimenter von dessen Gesicht, filmt runter zum Redetext und wieder hoch – so als müsse faktisch bewiesen werden, was da passiert. Statt erstmal aufklärend zu fragen, ob nicht etwas dran ist, an der Frage, warum die alevitische Gemeinde die Interviewanfrage anders verstanden hat. Nein, Kamera drauf, Aleviten filmen, Sarrazin darf ätzen „Sie sind keine Demokraten“ [wer ist Sarrazin, dass er das so feststellen kann?] – fertig. Ist das der öffentlich-rechtliche Journalismus, für den wir – Deutsche, Türken, Polen, Iraner und wer auch immer – Gebühren zahlen? Warum finde ich nur bei berlinturk.de nochmal ein Statement der alevitischen Gemeinde – wird den Aspekte auch zeigen?

Thilo Sarrazin zieht im Online-Beitrag der ‚Berliner Morgenpost‘ folgenden Schluss: „ein verdienter ehemaliger Berliner Senator, der sich nichts hat zuschulden kommen lassen, außer ein Buch mit unwillkommenen Zahlen und deren Analyse zu schreiben, wird aus einem zentralen Berliner Stadtteil, der nach eigenem Selbstverständnis die Speerspitze der Integration in Deutschland darstellt, förmlich herausgemobbt. Wehe uns, wenn, wie viele hoffen, Kreuzberger Zustände die Werkstatt des künftigen Deutschland sind.“ [Quelle]

Beschämend finde ich das ‚uns‘ in diesem Zusammenhang. Ich bin Historiker und Medienwissenschaftler, habe auch als Journalist gearbeitet. Ich empfinde dieses ‚uns‘ als höchstproblematisch, weil es andeutet ‚wir gegen die‘ oder ‚uns ohne andere‘ – kurzum es geht um Homogenität, wer nicht zu ‚uns‘ gehört, den brauchen wir nicht, oder anders: den wollen wir nicht. Diese Diktion kenne ich aus der deutschen Geschichte.

Sehr geehrter Herr Sarrazin, wenn Sie sich hier so unwohl fühlen, dann ziehen sie halt um – mir ist es komplett wurscht, wo ihre Tantiemen und Staatsrenten in den Sand setzen.

Liebes Aspekte-Team: grandios daneben!

PS Lege ich in die Kategorie ‚dicht gemacht‘ – da gehört es hin!

Dieser Beitrag wurde unter Dicht jemacht veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

4 Antworten zu Sarrazin in Kreuzberg [mit Nachtrag]

  1. Luise schreibt:

    Ich finde es beschämend, dass das ZDF mit Gebührengeldern Sarrazin eine Plattform bietet, um seinen Rassismus und Populismus zu verbreiten.
    Und dieses scheinheilige Beharren, nur harte wissenschaftliche Fakten präsentiert zu haben und Türken oder Araber nicht als Gruppe abqualifziert zu haben, wie er es in seinem Morgenpost-Beitrag tut, ist einfach nur peinlich. Wer Aussagen über die orientalische Mentalität, die Loyalität gegenüber der eigenen Volksgruppe verbreitet (natürlich formell immer nur auf den Einzelfall bezogen, man will sich ja nichts vorwerfen lassen) und eine wir und die anderen Differenz anahand ethnisierter Kategorien etabliert, verbreitet Rassismus und das sollte dann auch so benannt werden. Da hilft es auch nicht, wenn er als scheinbare Legitimation angibt, die Aussagen kämen ursprünglich von einer Türkin, denn das macht sie nicht weniger rassistisch.

  2. es geht auch ohne Herrn Broder schreibt:

    Nein, nein und nochmal nein: diese beleideigenden Kommentare auf den Onlien-Seiten der großen Zeitungsverlage finde ich als (Ur-)Kreuzberger eine Unverschämtheit. Mich kotzt total an, dass diese tagesspiegel-morgenpost-diezeit-und-welt-Journalisten incl. Henryk M. Broder meinen, sie wüssten, könnten, meinten immer alles besser zu wissen und zu kommentieren! Wer Sarrazin beobachtet, erlebt, dass er eine Letztgültigkeit für sich in Anspruch nimmt: kein gestandener Journalist noch Demokrat kann dann argumentativ noch durchdringen. Nicht die Kreuzberger sind hier die Unbelehrbaren vom Dienst, sondern Typen wir Sarrazin und Herr Broder!

  3. es geht auch ohne Herrn Broder schreibt:

    Und hier das oben angesprochen Zitat von Henryk M. Broder aus der Welt:

    „Peinlich in diesem Zusammenhang ist nicht der Besuch Sarrazins in Kreuzberg und der Versuch des ZDF, das Ereignis zu dokumentieren, peinlich ist nur Ihre unsägliche Stellungnahme, mit der Sie sich auf die Seite des Pöbels stellen, der in Teilen von Kreuzberg mittlerweile das Sagen hat.“

  4. criticman schreibt:

    Pöbel ist eine Unverschämtheit! Ich bin kein Pöbel, Herr Broder!

Hinterlasse eine Antwort zu criticman Antwort abbrechen